Ein altes Klavier stimmen? Nein! Reparatur oder Neukauf!

Mit dieser Art Handlungsanleitung sind viele meiner Kollegen im Klavierservice unterwegs. Davon erzählen mir immer wieder meine Kunden. Und da Praeludio überregional Klaviere im Alter bis zu 160 Jahren stimmt, kann ich berichten, dass dies sehr oft geschieht.

Sie haben ein altes Klavier, rufen in einem Klavierhaus an, damit jemand kommt, der Ihr Klavier stimmt. Der Kollege trifft bei Ihnen ein, und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er ein altes Klavier sieht. Sein Vor-Urteil stand schon vorher fest:

Das Stimmen eines alten Pianos ist viel Arbeit und im Verhältnis dazu relativ wenig Verdienst. Viel mehr Gewinn würde es bringen, wenn man dem Kunden ein neues Klavier oder wenigstens eine Reparatur verkauft. Und zwar ganz unabhängig vom wahren Zustand des Kulturmöbels. Nachdem der Verkauf eines neuen ausgeschieden ist, versucht man den Kunden in eine Art Preisspirale zu ziehen. Das heißt, der Verkäufer bietet wie auf einer Börse dem Kunden abgestufte Angebote in der Hoffnung an, dass dieser auf einem möglichst hohen Preisniveau in das verführerische Geschäft einsteigt.

In unserem konkreten Fall geht es um 1928 gebautes Klavier des Herstellers Grotrian aus Braunschweig. Der Kollege aus einem renommierten Klavierhaus in Bayreuth empfahl dringend eine Generalüberholung im Wert von 9.000.- Euro. Als der Kunde nach einer Wartezeit nicht mit einem Auftrag reagierte, reduzierte sich der Preis und natürlich auch die Leistungen auf eine Überholung von 5.000.- Euro. Nachdem immer noch keine Reaktion des Kunden kam, reduzierte man ein weiteres Mal den Preis und die Leistungen auf 3.000.- Euro. Die Grundlage für diesen Preiszirkus lieferte ein Gutachten für 90.- Euro, das laut dem Kunden so ausfiel, dass der Fachmann einen Blick ins Klavier geworfen hat.

Wie fühlt sich der Kunde? Als ein König? Nein, er fühlt sich alles andere als ernst genommen! Wer bekam den Auftrag? Erst einmal niemand. So bleiben Klaviere oft eine Ewigkeit ungestimmt und daher auch ungenutzt stehen. Der Kunde war frustriert, enttäuscht und erst aufgrund der Empfehlung einer Klavierlehrerin wandte man sich an einen Mitbewerber. Und dann passiert immer das Gleiche: Praeludio kommt, stimmt das Klavier und erzählt den Besitzern interessante Geschichten über die Konstruktion und den Zustand des Klaviers.

Die Verstimmung des Pianos ist nicht dramatisch. Man hört ihm halt an, dass es länger nicht gestimmt worden ist. Aber der Grad der Verstimmung lässt nirgends darauf schließen, dass man hier etwas für viel Geld reparieren müsste.

Grotrian-Klavier verstimmt

Dass das Klavier noch einwandfrei stimmbar ist, zeigt der Vergleich mit dem Ergebnis der Stimmung. Das Schlimmste an beiden Hörbeispielen ist das laut knarzende Nebengeräusch, das aber vom Klavierstuhl stammt! Ansonsten kann man dem Klavier eine angenehme Spielart und vor allem einen schönen Klang bescheinigen.

Grotrian-Klavier gestimmt

Das Grotrian-Klavier ist tiefer gestimmt, da es vor 1939 gebaut worden ist. 1939 war nämlich erst das Geburtsjahr der aktuellen Tonhöhe von 440 Hertz. Mit dem Kammerton legt man die Höhe der Stimmung fest. Nur wenn man mit anderen Instrumenten gemeinsam musizieren will, braucht man einen gemeinsamen und damit im Zusammenhang des anderen Instruments möglicherweise den aktuellen Kammerton von 440 Hertz. Grundsätzlich wirkt sich höher gestimmte Musik auf uns anspannend aus. Im Gegensatz dazu kann man sich bei tiefer gestimmter Musik leichter entspannen. Zur Zeit von Johannn Sebastian Bach waren in Deutschland 415 Hertz üblich. Das entspricht einem halben Ton tiefer als heute. Die Franzosen stimmten zur gleichen Zeit noch einen halben Ton tiefer. Möglicherweise drückte sich in der Höhe der gespielten Musik auch etwas das menschliche Naturell einer Region aus.

Aus den stark unterschiedlichen Daten des damals regional üblichen Kammertons kann man schließen, dass dieser besondere Ton (a1) nicht absolut sondern flexibel ist. Der Umgang mit dem Kammerton wird insofern vor allem bei vor 1939 gebauten Pianos insofern problematisch, als wir den Kammerton als eine absolut vorgegebene Norm betrachten und behandeln. Aber Normen dienen Menschen, die den Zusammenhang mangels Information nicht kennen und daher das Thema im Detail nicht beurteilen können. Somit konnte man in der Industrialisierung die Produktion billiger machen, indem man fachlich nicht ausgebildete Arbeiter ans Fließband stellte, die lediglich Normen zu erfüllen hatten. Die Norm ist darüber hinaus eine sinnvolle Vorgabe für eine Maschine. Für die Maschine war der flexible Umgang mit Daten bislang ein unlösbarer Problem, das es somit dringlichst zu vermeiden galt. Die Abweichung von der Norm kam daher in die Kategorie des Fehlers. Das sind alles Folgen der Industrialisierung, der wir uns als Gesellschaft bedingungslos unterworfen haben. Da uns jedoch die Welt 4.0 unmittelbar bevorsteht, in deren Folge die Maschinen nicht nur flexibler sondern mit künstlicher Intelligenz ausgestattet werden, sollte es auch uns Menschen erlaubt sein, mit den so genannten Fehlern anders umzugehen. Die Orientierung an irgendwann entstandenen Normen, der mangelnde Mut, die Normen auf ihre Zeitgemäßheit zu hinterfragen, und das zwanghafte Vermeiden von Fehlern hat sich in allen Bereichen etabliert und unsere eigene Entwicklung blockiert. Das zeigt sich vor allem im Bereich des Lernens und hier vor allem bei der Entwicklung von Neuem. Wenn also aus einem Land weniger Neuigkeiten kommen und sich auch durchsetzen können, dann hat das etwas mit diesem Umgang mit Normen und Fehlern zu tun. Das Gegenmodell ist das so genannte Differenzielle Lernen, das den Fehler als ein unverzichtbares Element des Lernens behandelt. Dieses Thema ist für Klavierspieler von höchstem Interesse, wenn sie mehr lernen wollen, als nur die Noten fremder Komponisten nachspielen zu können, nämlich das Improvisieren sowie das Kreieren eigener Musik mit den zeitgemäßen Möglichkeiten.

Grotrian-Klavier Modell 130 offen
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