Anhand der Störungen eines 1938 von Steingraeber gebauten Kleinklaviers, möchte ich Ihnen praxisnah das so genannte Flaschenhalsmodell der Wahrnehmung kurz vorstellen:
Haben Sie davon schon einmal etwas gehört: Von einem Flaschenhalsmodell der Wahrnehmung? Nun, es besagt, dass wir die Vielzahl der von unseren Sinnesorganen aufgenommenen Informationen stark reduzieren. Das Bewusstsein wird hier zum Flaschenhals. Denn die tatsächlich zum Bewusstsein vordringenden Informationen sind sehr gering. Ferner besagt das Modell, dass die Reize nicht parallel und somit gleichzeitig, sondern nur seriell, das heißt nacheinander, verarbeitet werden können. Sie können das bei den nachfolgenden Aufnahmen an sich selbst testen. Sie hören dreimal das gleiche Stück.
Steingraeber 1938 verstimmtWas fällt Ihnen beim Hören der ersten Aufnahme auf? Machen Sie sich ruhig Notizen! Hören Sie sich die Aufnahme noch einmal an. Bei der ersten Aufnahmen haben Sie die Verstimmung wahrgenommen. Vielleicht haben Sie gelegentlich gehört, dass die Hämmer die Saiten mehrfach anschlagen, also „trommeln. Darüber könnte Ihnen ein relativ stark knarzendes Pedal aufgefallen sein.
Selbst Klaviere bekannter Marken haben im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder auch Fehler produziert. An dem Bild darüber sieht man, dass beim untersten Stimmnagel des höchsten Tons der Stimmhammer nicht auf den Stimmnagel passt. Der Stimmnagel ist zu nah am Mechanikbolzen.
Der Stimmhammer passt erst auf den Stimmnagel, wenn man die Mechanik nach vorne kippt. Klavier stimmen ohne Klaviermechanik? Sie kennen den Spruch: Nichts ist unmöglich! Interessant ist die Feststellung, dass diese Klaviere ohne Korrektur die Fabrik verlassen haben. Ist es nicht aufgefallen? Oder ist der Fehler nicht korrigierbar? Oder funktionierte die Rückmedlung innerhalb der Firma nicht.
Hier gleich noch ein Konstruktionfehler. Denn darum handelt es sich, wenn die Saiten im Wirbelfeld nicht frei laufen. Hier drückt eine Saite gegen einen anderen Stimmnagel. Immer wenn man diesen anderen Stimmnagel bewegt, verstimmt sich die Saite. Diese und ähnliche Beispiele lassen mich zu dem Schluss kommen, dass die Stimmbarkeit für die Klavierbauer früher nicht wirklich ein Thema war. Das hat wiederum dazu geführt, dass die Klavierstimmer zu Einzelkämpfern wurden. Um sich zu schützen, entwickelten sie ein Gebäude von Argumenten, die sie bei jeder Gelegenheit wiederholten. Im Verlauf von über 100 Jahren hat somit jeder schon einmal davon gehört,
Bei der zweiten Aufnahme fällt sofort die gute Stimmung auf. Da die Verstimmung als Störung nicht mehr vorhanden ist, fällt nun das Trommeln der Klavierhämmer deutlicher auf – auch weil ich das Stück langsamer spiele. Und da es nicht mehr stört, haben Sie das vorher noch knarzende Pedal sicher bereits vergessen!
Steingraeber 1938 gestimmtIn der dritten Aufnahme genießen Sie die gute Stimmung, werden weder durch ein knarzendes Pedal noch durch die schlechte Mechanikregulierung, die man vorher in Form des so genannten Trommelns hören konnte, gestört. Daher bekommt man als Klavierspieler Lust, das Stück mit mehr Dynamik zu spielen. Im Gegensatz zum Anfang, als ich eher unterbewusst durch ein schnelleres Spiel und ein stärkeres Anschlagen versucht habe, den Fehler in der Spielart, das Trommeln, zu überspielen, überwiegt jetzt die Dynamik als Ausdruck von Spielfreude aufgrund der guten Stimmung sowie der präzise funktionierenden Klaviermechanik!
Steingraeber 1938 ohne StörungEin Blick von hinten zeigt uns einen starken Rasten. So nennt man die Aufflagefläche für den Resonanzboden, die gleichzeitig der Gegenpol für die Gussplatte und somit ein wesentliches Element für eine gute Stimmhaltung ist.